Messer, Morde und Migranten

Muster der TV-Berichterstattung

Wenn das deutsche Fernsehen über hierzulande lebende Einwanderer und Flüchtlinge berichtet, dann vor allem über mutmaßliche Gewalttäter, kulturelle Überfremdung und die Belastung des Sozialstaates. Gelungene Integration ist kaum ein Thema.

Printausgabe tv diskurs: 24. Jg., 1/2020 (Ausgabe 91), S. 66-71

Als in Hannover der im November 2019 neu gewählte Oberbürgermeister Belit Onay (39) über die breiten Stufen des wilhelminischen Rathauses eilt, das in den nächsten sieben Jahren sein Arbeitsplatz sein wird, ist das Medienecho enorm. Selbst die „New York Times“ berichtet, dass erstmals in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte ein Sohn von Einwanderern Verwaltungschef einer Landeshauptstadt sein wird. Dabei haben im Wahlkampf Onays familiäre Wurzeln und sein Selbstverständnis als liberaler Muslim kaum eine Rolle gespielt, umso mehr dagegen in zahlreichen Hass-Posts in den sozialen Medien.

Im Medienalltag allerdings ist gelungene Integration 2019 kaum ein Thema. Wer in den Abendnachrichten hierzulande lebenden Ausländern begegnet, den packt das Grauen: Mit sechs Messerstichen hat ein afghanischer Flüchtling einen Studenten in Ochtrup bei Münster getötet. Unter scharfen Sicherheitsvorkehrungen beginnt in Essen ein Prozess gegen eine syrische Großfamilie. Sie soll einen ebenfalls aus Syrien stammenden 19‑Jährigen lebensgefährlich verletzt haben, weil er eine Beziehung mit einer jungen Frau aus der Familie hatte. Und immer wieder geht es um den Mord in Chemnitz, der zahlreiche ausländerfeindliche Demonstrationen auslöste. Unter Anklage stehen zwei Männer aus Syrien und dem Irak.

Wie die Hauptnachrichten und Boulevardmagazine der acht meistgesehenen deutschen Fernsehsender und die auflagenstärksten überregionalen Tageszeitungen „Bild“, „Süddeutsche Zeitung“, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Die Welt“ sowie die Tageszeitung „taz“ jeweils im überregionalen Teil ihrer Bundesausgabe über Eingewanderte oder Geflüchtete berichten, war 2019 ein zweites Mal seit 2017 Thema unserer Medienanalyse an der Hochschule Macromedia (vgl. Hestermann 2017). In die Analyse flossen auch Daten aus der Langzeitanalyse an der Hochschule Macromedia zur Fernsehberichterstattung über Gewaltkriminalität seit 2007 ein.

Der gewalttätige Ausländer ist die zentrale Angstfigur

Die aktuellen Befunde zeigen: Wenn das Fernsehen über Ausländer in Deutschland berichtet, dann in 28,2 % der untersuchten Beiträge im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und zu 38,7 % im Privatfernsehen über mutmaßliche Gewalttäter. Der Anteil an allen untersuchten Fernsehformaten beträgt 34,1 %. Wie auch 2017 ist der gewalttätige Ausländer die zentrale Angstfigur im aktuellen Journalismus. Dies hat mit der Kölner Silvesternacht 2015/2016 zu tun, als vor allem junge Männer aus Nordafrika zahlreiche Frauen sexuell angriffen und beraubten. In überregionalen Medien zeigte sich das Ausmaß der Gewalt erst nach einem Sturm der Empörung in den sozialen Netzen.

Seitdem steht die Medienbranche unter Dauerbeschuss: Die „Lügenpresse“ oder auch „Lückenpresse“ verheimliche Straftaten von Eingewanderten und Geflüchteten und beschönige die Lasten der Integration. Die Diskussion, inwieweit die Nationalität ereignisrelevant sei, führte 2017 zu einer Neufassung des Pressekodexes in der Richtlinie 12.1. Danach sei die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nicht zu erwähnen, „es sei denn, es besteht ein begründetes öffentliches Interesse“. Nicht wie zuvor die Relevanz, sondern das Publikumsinteresse steht nunmehr im Mittelpunkt.

Immer häufiger nennen Medien die Herkunft von Tatverdächtigen – wenn sie Ausländer sind

Tatsächlich hat sich das journalistische Handeln signifikant verändert: Während in der Fernsehberichterstattung über Gewaltkriminalität 2014 bei gerade mal 4,8 % der Tatverdächtigen die Herkunft genannt wird, geschieht dies 2017 bei 17,9 % und 2019 bei 31,4 %. Dabei ist der mediale Blick nicht etwa klarer geworden, sondern verzerrter als zuvor.

Denn während im Jahr 2018 laut Polizeilicher Kriminalstatistik 69,4 % aller mutmaßlichen Gewalttäter Deutsche sind, beträgt ihr Anteil an der Berichterstattung 2019 nur 3,4 % (erfasst sind explizite Hinweise auf die Nationalität). Der Anteil nicht deutscher Tatverdächtiger, laut Kriminalstatistik 30,6 %, liegt in den Fernsehberichten bei 28,0 % (siehe Abb. 1). Immer häufiger also wird in Fernsehberichten die Herkunft von Tatverdächtigen genannt – aber meist nur dann, wenn sie Ausländer sind. Die größte Lücke der Wahrnehmung klafft also nicht im Blick auf gewalttätige Ausländer, sondern auf gewalttätige Deutsche.

Quelle: Mediediskurs, Thomas Hestermann